Medienkritiker Stephan Weichert spricht mit uns über die Entwicklung des Konstruktiven Journalismus in Deutschland, seine Grenzen und die für ihn entscheidende Zukunftsfrage.
Wie hat sich der Konstruktive Journalismus und die Debatte um ihn seit 2010 in Deutschland entwickelt?
Stephan Weichert: Es gibt zwei unterschiedliche Perspektiven. Einerseits gibt es die Debatte über Konstruktiven Journalismus, also über die Begriffsverwendung und das Narrativ, dass wir generell mehr Konstruktivität in Redaktionen brauchen. Dieser Diskurs geht tatsächlich schon lange zurück, bis Anfang der 2010er Jahre. Ich habe mich schon davor mit dem Friedensjournalismus, einem Vorläufer, beschäftigt, den der Psychologe Wilhelm Kempff und der Friedensforscher Johan Galtung Mitte der 1990er Jahre begründet haben. Damals gab es schon den Vorwurf, das es ein weltfremder Ansatz sei. Sinngemäß wurde argumentiert: Was nütze es Opfern und Kriegsparteien der Hinweis, dass es auch – anderorts – Frieden gäbe. Der Durchbruch im Diskurs zu Konstruktivem Journalismus kam aber um 2015 mit den Vorträgen und dem Buch des dänischen TV-Journalisten Ulrik Haagerup (Constructive News. Edition Ohlhauer, vergriffen, Anm. d. Red.)
Haagerup gründete dann 2017 das Constructive Institute an der Universität Aarhus.
Bereits vorher gab es das Solutions Journalism Network, das Tina Rosenberg, Courtney Martin und David Bornstein 2013 gründeten sowie den lösungsorientierten Ansatz in den USA. Er reicht bis in die 2000er Jahre zurück. Der Diskurs ist also nicht neu und hat verschiedene historische Stadien durchlaufen. Dennoch würde ich sagen, dass er gerade durch Haagerups Arbeit und der seiner dänischen Kolleg:innen hierzulande im journalistischen Alltag als praktische Handreichung angekommen ist.
Und die zweite Perspektive?
Was ist Konstruktiver Journalismus? Ist der Ansatz praktisch gesehen neu? Meine Antwort lautet: Jein. Die Kritik an der Ausrichtung des klassischen Nachrichtenjournalismus gibt es seit vielen Jahrzehnten. Die Medienwissenschaft diskutiert darüber seit Anfang der 1990er Jahre, immer wieder mit einem etwas anderen Blickwinkel. Ich würde deswegen nicht unbedingt von einer neuen Qualität sprechen. Ich sehe aber, dass der Diskurs darüber und die Möglichkeiten, die man anbietet, konstruktiv zu arbeiten, ein neues Stadium erreicht haben. Man probiert es aus und man setzt sich öffentlich, zum Teil hart und konfrontativ damit auseinander. Es gibt die Vertreter:innen der konstruktiven Schule und Kolleg:innen, die sagen, all das bräuchte es nicht, weil guter Journalismus schon immer Perspektiven und Lösungen aufzeigt. Etwa der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Georg Mascolo.
Hat er recht?
Tina Rosenberg, die Co-Gründerin des Solution Journalism Network hat immer gesagt: Wir haben unser Ziel dann erreicht, wenn wir überflüssig sind. Ich frage mich, ob der Diskurs und journalistische Praxis bereits an diesem Punkt sind? Macher:innen würden das natürlich anders sehen, das ist auch gut so. Aber eigentlich hat Mascolo prinzipiell recht, wenn er sagt, guter Journalismus recherchiert immer die letzte Meile mit. Gute Journalist:innen fragen sich immer, was es für Lösungen und Perspektiven geben könnte. Sie akzeptierten aber auch, dass es Themen gibt, bei denen die Recherche vorher endet oder enden muss. Man kann in diesen Fällen keine Lösung diskutieren, weil es noch kein Rollenmodell oder vergleichbare Szenarien oder Ereignisse gegeben hat.
Aber Studien wie der Reuters Digital News Report zeigen doch, dass fast ein Drittel der Deutschen seinen Nachrichtenkonsum reduziert oder gänzlich einstellt. Vieles erscheint ihnen in der Berichterstattung zu negativ, zu unausgewogen. Konstruktiver Journalismus bietet da doch die Chance sie zurückzugewinnen, oder?
Das ist mir zu einfach gedacht. Wir haben es mit Phänomenen in dieser Krisenzeit zu tun, bei denen Konstruktiver Journalismus nur einer – und dazu noch ein kleiner – Baustein ist, um mit diesen gesellschaftlichen Entwicklungen umzugehen. Und hier würde ich noch mal die Frage stellen wollen, was ist Konstruktiver Journalismus denn eigentlich? Ist es ein Konzept? Ist es ein Ansatz? Ist es eine Praxis? In unterschiedlichen Zusammenhängen wird der Begriff unterschiedlich gebraucht.
Kurz und knapp: Ein sinnvolle, konstruktiv-kritische Erweiterung und Ergänzung der bestehenden Berichterstattung, die sich Community und Publikum längst wünschen. Keine PR, kein Rosarot, kein Aktivismus, keine reinen Good News. Dennoch, es bräuchte also nochmal eine klare Definition?
Ich treffe immer wieder auf Leute, die den Begriff verwenden, aber überhaupt keine Ahnung haben. Es gibt auch Unterschiede zwischen der dänischen Schule und der US-amerikanischen Schule des Solution Journalism Network. Ich kenne die Gründer:innen lange und deren jeweilige Perspektiven gut. Ulrik Haagerup ist, ganz wertfrei gesagt, sehr offensiv, er propagiert eine grundlegend stärker aufs Konstruktive ausgerichtete Berichterstattung. Den Kolleg:innen in den USA ist das zu missionarisch, sie zeigen zunächst vor allem lösungsorientierte Berichtswege und -methoden anhand von Beispielen auf. Dort liege, sagt wiederum sinngemäß Haagerup, der Fokus zu sehr auf Trainingsprogrammen, bei denen es nur darum gehe, zu lernen, besser zu recherchieren. Kürzlich habe ich zum Thema auch mit einen Journalismus-Professor in NRW gesprochen. Für ihn ist es wiederum ohnehin selbstverständlich, seinen Studierenden lösungsorientierte Ansätze zu vermitteln. Er bezweifelt, dass es dafür extra einen wissenschaftlichen Denkansatz oder ein eigenes Institut bräuchte.
Kommen wir zur ursprünglichen Frage zurück: Bietet Konstruktiver Journalismus die Chance Menschen zurückzugewinnen, die Nachrichten meiden?
Mich und uns beim Vocer Institut für digitale Resilienz (gemeinnütziger Think Tank zur digitalen Transformation von Medien und Journalismus, Anm. d. Red.) beschäftigt das sehr stark. Wir haben eine eigene, repräsentative Studie zum Thema Nachrichtenverweigerung durchgeführt – und festgestellt, dass sich Leute sogar komplett abkapseln. Wir nennen diese extreme Form: „News Burnout“.
Wurde gefragt, warum das so ist?
Ja, in vielen unserer Interviews kamen klare Antworten: „Wir vertrauen den Medien nicht mehr. Es sind zu viele Krisen, wir halten das nicht mehr aus. Wir wollen mehr Lösungsmöglichkeiten in der Berichterstattung.“ Aber, das fehlt oft in der Debatte, es wurde auch klar gesagt: „Wir wollen nicht bevormundet oder an die Hand genommen werden. Wir wollen keine vorgefertigte Meinung serviert bekommen.“ Das ist für mich der entscheidende Punkt. Konstruktiver Journalismus darf Leuten nicht das Gefühl geben, dass sie bevormundet werden. Dann verlieren die Medien noch mehr an Glaubwürdigkeit. Das ist ein schmaler Grat und die Grenze zum Aktivismus. Hier muss man sich ehrlich machen – und Macher:innen müssen sich diesbezüglich immer hinterfragen. Es braucht zwingend eine gewisse Objektivität. Neutralität, das wissen wir, gibt es nicht im Journalismus.
Konstruktiver und auch lösungsorientierter Journalismus betonen explizit die klaren, generellen Regeln des journalistischen Handwerks. Konsequent angewandt, verhindern sie doch eigentlich, dass die genannte Grenze überschritten wird, oder?
Ich kenne nicht alle Journalistenschulen von innen. 2017 war ich in Hamburg einer der ersten, der das Thema mit ins Curriculum aufnahm. Auch, weil ich damals merkte, dass Redaktionen, etwa beim NDR, diese Fragestellungen beschäftigten. Deswegen habe ich den Constructive Journalism Day mit ins Leben gerufen, weil deutlich wurde, dass es Gesprächsbedarf gab. Ursprünglich stand ich auf der Seite der Konstruktivist:innen, habe aber in Teilen umgedacht. Mich stört etwa der Vorwurf, dass Journalist:innen stärker zum Negativdenken neigen (Negativity Bias, Anm. d. Red.).
Aber das ist doch durch Studien belegt und Negativität und ihr verwandte Begriffe wie Katastrophen sind doch unstrittig wichtige Nachrichtenfaktoren.
Ich finde, diese Argumentation ungerecht all jenen Journalist:innen gegenüber, die diesen Bias nicht eben haben, die schon immer versucht haben und versuchen, anders zu berichten. Eine pauschale Medienschelte lehne ich ab. Ja, es braucht mehr Kontext. Und um mit Tina Rosenberg zu sprechen, wir dürfen und müssen den Leuten auch mehr Komplexität zumuten, statt ständig zu vereinfachen. Es ist wichtig, Kontext zu geben. Kontext eines Ereignisses, des Gegenstands der Berichterstattung, Kontext und Transparenz über die eigene journalistische Arbeit und die Motive. Aber eine Pauschalschelte gegenüber allen Medien als Argument, als Narrativ geht nicht. Das ist zu banal und zu kurz gedacht. Das Gegenstück zu Krise ist Resilienz. Auch deswegen haben wir bei Vocer bewusst den begrifflichen Fokus nicht auf konstruktiv, sondern auf digitale Resilienz, die auch die konstruktiven Dialog beinhaltet, gelegt. Leitfragen sind: Wie machen wir unsere demokratische Öffentlichkeit widerstandsfähiger? Wie können wir auf Krisen reagieren? Wie werden wir innovativer, wie werden wir anpassungsfähiger? Das gilt besonders in Bezug auf Medien, aber auch auf Gesellschaft insgesamt.
Gemeinsam mit Leif Kramp haben Sie das Potential des Konstruktiven Journalismus in Deutschland im Rahmen von zwei Studien – etwa mit Blick auf die Pandemie – bereits untersucht. Welche zukünftigen Fragen wären spannend?
Ich würde mir die Akteur:innen und ihr journalistisches Selbstverständnis anschauen, die aktuell in diesem Feld unterwegs sind – und nach ihrer Motivation fragen. Warum ist jetzt das Engagement und das Interesse größer als noch vor ein paar Jahren? Ich glaube, dass sind sehr spannende Leute, die das Richtige wollen. Empirie dazu wäre wichtig. Wichtiger als die Frage, ob die Kaufkraft erhöht werden kann, wenn man konstruktiver berichtet. Das wichtigste Thema aktuell ist aber ganz klar KI. Hat Konstruktiver Journalismus dafür auch einen Lösungsansatz? Wir haben das Problem, dass wir jetzt gesellschaftlich total überrollt werden. Wir kommen gar nicht hinterher, darüber zu diskutieren, was wir anders oder besser machen können. Wenn wir nach vorne schauen, geht es eigentlich nur noch um die Frage, wie können wir individuell und unsere Demokratie überhaupt irgendwie mithalten? Wie kann der Journalismus seine Identität wahren? Wie kann er überhaupt noch sichtbar sein bei den Menschen und überlebensfähig bleiben?
Klingt nach allem: Krise, Transformation, Chance?
Der Journalismus befindet sich seit gefühlt 15 Jahren in einer dauerhaften Suchbewegung. Und diese Suchbewegung bringt zum Glück mit sich, dass es einen gewissen Experimentierwillen gibt. Er hat aber auch im Negativen zu extremen Abhängigkeitsverhältnissen geführt, etwa von Social Media. Die Fragen zur Berufsethik, die mit dem konstruktiven Ansatz zusammenhängen, halte ich alle für sinnvoll. Es ist aber wichtig, dass der konstruktive Ansatz auch permanent hinterfragt wird. Passiert das nicht, hat er keinen Wert. Dann ist es missionarischer Eifer. Lösungsorientierter Journalismus ist kein Allheilmittel, sondern ein wichtiges Add-on. Und vielleicht kann er auch dazu führen, dass endlich der Objektivitätsanspruch relativiert wird. Aber kann er auch erreichen, dass wir ein von kommerziellen Markt-Modellen unabhängiges Mediensystem haben, was werteorientiert funktioniert – und den Dialog mit Publikum, mit Nutzer:innen pflegt und schützt? Ich glaube, wir alle – gerade als Journalist:innen – können zur Lösung dieser entscheidenden Frage beitragen, wenn wir dazu ins Gespräch kommen.
(Interview: Jan Scheper / Foto: Pexels/Karolina Grabowska)
Dr. Stephan Weichert ist Medienwissenschaftler, Innovationsmanager, Publizist und Sozialunternehmer. Stephan ist Ko-Geschäftsführer der DIALODGE, einem neuen Kreativzentrum für konstruktiven Dialog und Demokratie-Resilienz in Mustin bei Ratzeburg. Mit dem Journalisten Alexander von Streit leitet Stephan das VOCER Institut für Digitale Resilienz und arbeitet seit über 20 Jahren als Lehrbeauftragter für Digitalen Journalismus und nachhaltige Innovation. Parallel zu seiner Karriere als Hochschullehrer ist Weichert als als Publizist, Autor und Regisseur tätig. Zuletzt erschien sein Buch „Resilienter Journalismus. Wie wir den öffentlichen Diskurs widerstandsfähiger machen“ (2022). Stephan ist Gründungsmitglied des Forums für gemeinnützigen Journalismus und Ko-Leiter von NPJ.news, der internationalen Datenbank für Nonprofit-Medien und einem Netzwerk aus Verbänden, Stiftungen, Startups und Hochschulen, die sich für gemeinwohlorientierten und gemeinnützigen Journalismus engagieren. (Foto: Martin Kunze)